Ein Anker der Humanität
Von Julia Duchrow
„Um den Wert des Ankers zu erkennen, müssen wir den Stress des Sturms spüren.“ Dieses Zitat wird der Niederländerin Corrie Ten Boom zugeschrieben. Sie rettete zur Zeit der deutschen Besatzung der Niederlande aus christlicher Überzeugung zahlreichen Jüdinnen und Juden das Leben. Auf das Zitat stieß ich bei der Arbeit an dieser Kolumne, die kurz nach dem 75. Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) erscheint. Welchen Anker Corrie Ten Boom hatte, um dem Sturm ihrer Zeit zu widerstehen, weiß ich nicht. Möglicherweise war es ihr Glaube. Doch ihr Satz blieb mir im Kopf, als ich über die Bedeutung der AEMR gestern und heute nachdachte. Angesichts der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Barbarei des Holocaust, war und ist sie das Versprechen, dass das Recht jedes Einzelnen zählt – immer und überall. Sie ist ein Anker für die Menschheit, ein Anker unserer Humanität. Daran gilt es zu erinnern: Die Universalität der Menschenrechte ist kein Schönwetterkonzept, sondern für stürmische Zeiten gemacht. Für Momente, in denen Konflikte eskalieren, die Emotionen hochkochen und nach Freund und Feind sortiert wird. Für Zeiten wie jetzt. Wir alle spüren den Stress gleich mehrerer Stürme: Krieg, Gewalt und Zerstörung nehmen in vielen Teilen der Welt zu. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, die Eskalation in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten oder der immer noch nicht ganz beendete Krieg in Äthiopien sind nur drei Beispiele dafür. Mehr als 100 Millionen Menschen sind auf der Flucht, Rassismus und Antisemitismus stellen wachsende Probleme dar, Populismus dominiert, und Debattenräume verengen sich. Und statt ihrem Selbstverständnis als Gemeinschaft des Rechts gerecht zu werden, höhlt Europa den Flüchtlingsschutz bis zur Unkenntlichkeit aus. Hinzu kommen die Folgen der Corona-Pandemie, die die weltweite soziale Ungleichheit weiter verschärft und damit für viele den Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Rechten erschwert hat. Die Klimakrise zerstört schon heute die Lebensgrundlage von Millionen Menschen, vor allem im Globalen Süden und bedroht die Zukunft der nächsten Generationen. Sie ist auch und vor allem eine massive Menschenrechtskrise. Wann, wenn nicht jetzt, sind die Menschenrechte gefragt? Wer, wenn nicht wir, kann entsprechende Antworten geben? Wir stehen im Sturm. Lasst uns den Wert des Ankers vermitteln! Amnesty International ist die weltweit größte Menschenrechtsbewegung, unterstützt von mehr als zehn Millionen Menschen, getragen von vielen, die sich ehrenamtlich engagieren. Mit unserer Recherchearbeit leisten wir wichtige Aufklärung über Menschenrechtsverletzungen, unsere Einzelfallarbeit stärkt jene, die in der ersten Reihe stehen und für Veränderungen kämpfen. Mit unseren Kampagnen mobilisieren wir Menschen, sich für die Menschenrechte ein zusetzen, zum Beispiel gegen staatliche Repression und für das Recht auf friedlichen Protest. Seit dem 1.November bin ich Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. Dass ich mich weiter in leitender Funktion für diese wichtige Organisation einbringen darf, ist für mich Privileg und Freude zugleich. Vielen Dank an Markus N. Beeko, von dem ich das Amt übernommen habe und der Amnesty in seiner Wirkungszeit auf vielen Ebenen vorangebracht hat. Als Juristin begreife ich Recht als ein Instrument, das Macht begrenzt und Menschen vor Missbrauch und Gewalt schützt. Deshalb bin ich bei Amnesty. Als Generalsekretärin werde ich dafür sorgen, dass in diesen stürmischen Zeiten die Stimme von Amnesty gehört wird. Dafür gilt es Debattenräume zu öffnen und klar und deutlich für die Universalität der Menschenrechte Partei zu ergreifen. Denn das Recht jedes Einzelnen zählt – immer und überall!
Julia Duchrow ist seit dem 1. November 2023 Generalsekretärin der deutschen Amnesty Sektion
zitiert aus amnesty Journal 1/24